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Ich bin gerade versucht als Untertitel zu schreiben: „Aus der Reihe: Vergessene Wörter der deutschen Sprache“. Aber das ist zynisch und wäre vermutlich auch falsch. Denn auch, wenn wir oft nicht danach handeln, wissen wir immer, was Integrität ist. Und das ist ziemlich erstaunlich.

Ich war Ende Januar auf einer mehrtägigen Fortbildung. Am Einlass wurden wir gebeten alle Getränke außer Wasser draußen zu lassen – wegen des hellen Teppichbodens. Absolut verständlich – und zudem hatte ich mich im Vorfeld bereit erklärt, den Anweisungen des Personals Folge zu leisten.

Ich lasse also meinen geliebten grünen Tee, ohne den ich morgens nur ein halber Mensch bin, an der Garderobe. Allerdings nicht ohne Diskussion: „Ich sei ja schließlich schon erwachsen und durchaus dazu in der Lage aus einer Nalgene Flasche zu trinken ohne mich und den Teppich zu bekleckern … davon abgesehen sei das ja nur grüner Tee und der ist ja fast farblos… “ Was den Drachen an der Türe wenig beeindruckt hat.

Am dritten Tag sehe ich, dass fast alle Teilnehmer neben mir Cola, Kaffee, Säfte im Seminarraum dabei haben, Und denke mir: „Wenn das so ist, kannst du das auch!“ Ich hab‘ s dann auch getan.

 

Nur um die Erfahrung zu machen, dass der positive Effekt des belebenden Getränks vollkommen von einem Unwohlsein, das bei jedem Schluck wuchs, aufgehoben wurde.

Was ich im normalen Leben wohl kaum wahrgenommen und/oder wahrscheinlich überspielt hätte, war in meinem sensibilisierten „Seminar Zustand“ sehr schön zu beobachten:

 

Jeder Regelbruch verursacht Kosten.

Genauer: jeder Bruch einer Regel, der ich vorher zugestimmt habe.

Es ist nicht die Strafe die das Kollektiv dem überführten Täter auferlegt, die ich meine, sondern der „innere“ Schaden der entsteht durch

  • das gebrochene Wort,
  • die nicht eingehaltene Vereinbarung oder
  • das „vergessene“ Commitment .

Alte Kulturen wussten noch um die außergewöhnliche Kraft des Wortes und behandelten das Wort entsprechend sorgfältig. Früher war es der Schwur. In unserer tendenziell gottloseren Zeit sind es „Vereinbarungen“.

 

Das Thema ist Integrität

Mit Integrität meine ich nicht „Unbescholtenheit“ oder „Unbestechlichkeit“ oder jene moralisch/ethische Wertung, die wir so gerne in den Anderen und so schwer in uns selbst sehen.

Integrität ist eine ganz persönliche Sache, eine Sache meines Systems – das Spielfeld sind Beziehungen.

Integrität ist in meiner Welt ein Synonym für ganz oder heil sein.

Integral zu arbeiten bedeutet für mich immer auch diese Ganzheit im Auge zu haben – die übrigens paradoxer Weise in jedem Menschen vorhanden ist, auch wenn er gerade nicht integer handelt.

 

„Selbst in zehn Ansichten“ Julia Beer 2014

Brüche in der Integrität.

Vielleicht sind es zuerst Haarrisse, kleine Sprünge, die größer werden. Dann brechen ganze Stücke heraus. Das kann im Laufe eines Lebens kumulieren und im worst case bricht alles auseinander. Das ist so dramatisch, wie es klingt. Bei genauer Betrachtung eigentlich sogar noch schlimmer.

Denn wir sind uns in der Regel weder der Vereinbarungen bewusst, denen wir (irgendwann) zugestimmt haben, noch unserer integrität gefährdenden Handlungen und am allerwenigsten der Kosten. Denn die sind nicht direkt wahrnehmbar, sondern zeigen sich nur indirekt an den Folgen, die meist nicht einmal einfach/linear kausal zuordenbar sind. Ein vertracktes Thema.

 

Mir fällt seit Langem auf, dass Klienten, deren Leben gar nicht funktionieren will oder gerade völlig chaotisch ist, oft auch einen ausgesprochen „großzügigen“ Umgang mit ihrem Wort und ihren Vereinbarungen haben. Ich vermute da schon lange einen Zusammenhang. Wenn wir anfangen, die Brüche aus der Vergangenheit zu kitten, ändert sich ihr Zustand oft so dramatisch, dass Beziehungsklärung und andere Aufräumarbeiten wie z.B. im Ikarus Programm mittlerweile zum festen Bestandteil des Coaching Prozesses geworden sind.

 

Es geht hier aber nicht darum eine bestimmte Moral einzuhalten oder mit dem erhobenen Zeigefinder zu wackeln. Das ist immer hölzern und relativ kraftlos und nur all zu oft genau der Weg zu Untreue und Verletzung der Integrität.

 

Es geht darum vollständig zu werden.

Handlungen die aus dem Zustand der Integrität heraus erfolgen sind spürbar anders, kraftvoller, erfolgreicher. Sie eröffnen immer Möglichkeiten und oft auch neue Wege. Der Weg dahin? Nicht so zu tun als ob Sie es schon sind! Die gute Nachricht: es ist egal auf welchem Feld Sie das spielen. Integrität unterscheidet nicht zwischen klein und groß. Das tut nur Ihr Ego.

 

Üben, üben, üben.

Sie können Integrität überall und immer praktizieren. Z.B. Pünktlichkeit, wenn das für Sie ein Thema ist. Oder bei Geld. Wenn die Integrität gegenüber dem Finanzamt noch zu groß ist, können sie auch einfach damit anfangen, ihre Ausgaben aufzuschreiben. Alle und auf den Cent genau. Oft ist auch ein Blick in das Bücherregal ein guter Anfang. Sie könnten auf die Idee kommen alles zurückgeben, was sie sich mal geliehen haben. Aber dann geben sie bitte auch Alles zurück und machen es nicht so wie Frau Schwarzer, die nur die eine Hälfte bezahlt, die noch nicht verjährt ist. Brüche der Integrität verjähren nämlich nicht.

 

Die Integrität von Vereinbarungen

Das ist eine eine Form von Achtsamkeit. Sich selbst und anderen gegenüber. Mit zunehmendem Bewusstsein wird sich die Art und Anzahl Ihrer Vereinbarungen verändern. Und damit ihr Leben. Zumindest mir ist es so ergangen.

 

Die Integrität der Sprache

Miguel Ruiz hat das in den Four Agreements „to be impeccable with your word“ genannt. Der Begriff Makellosigkeit stammt aus einer alten Kriegerkultur. Versuchen Sie erst gar nicht das zu imitieren, aber üben Sie damit und denken sie ab und zu daran ihr Wort zu ehren.

Wenn das Bewusstsein für Integrität wächst, wird es einfacher Wort zu halten – auch in schwierigen Situationen.

 

Die Integrität des Körpers

Der Körper hat eine eigene Integrität. Seine Unversehrtheit und seine Regelmechanismen. Z.B. das Bedürfnis nach Entspannung Ruhe und Rgeneration, das wir so gerne missachten.

Aber es gibt auch eine Integrität in der Ausrichtung, der Bewegung und dem Umgang mit Schwerkraft.

Das Zusammenfinden aller Teile zu einem Ganzen wiederum bringt Bewusstsein hinein und fördert eine subtile, energetische Form der Integrität, die unabhängig ist von Aussehen, Alter und Gesundheitszustand.

 

Die Integrität des Unternehmens

Wenn Sie mir bisher folgen konnten, ahnen Sie wahrscheinlich schon, dass hier nicht Corporate Social Responsibility oder Nachhaltigkeit gemeint ist.

Unternehmen haben ein eigenes „Selbst“, das sich in der Kultur abbildet. Und wer in Unternehmen arbeitet, weiß wie schnell dessen Integrität verletzt ist und was für gravierende Folgen das hat.

Viele der von CEOs und Unternehmensentwicklern isoliert betrachteten Themen sind Symptome die auf Verletzungen der Integrität des Gruppen-Selbst beruhen. Wenn einem das klar ist, wird auch klar warum viele dieser Symptome lindernden Maßnahmen teuer und gleichzeitig so wenig effektiv sind.

Die meisten dieser „Probleme“ werden erst lösbar, wenn die Integrität wieder hergestellt ist. Manche scheinen sich danach wie von selbst zu lösen.

 

Das Prekäre daran ist: Um die Integrität zu stören reichen die Handlungen einzelner exponierter Gestalten. Die Heilung, oder besser der Prozess der Heilung, muss aber von allen getragen werden. Es reicht nie den gefallenen CEO zu tauschen, eine Strafe zu zahlen, eine Ethik Kommission einzusetzen und neue Imagebrochüren zu drucken.

Der Prozesss muss durch das ganze Unternehmen gehen und wortwörtlich alle mitnehmen: vom Vorstand bis zum Pförtner und der Putzfrau.

 

Integrität als Leadership Prinzip.

Auch wenn der Gedanke verlockend ist. Es geht nicht darum gut da zu stehen! Geschweige denn moralisch/ethisch perfekt zu sein.

Integrität ist eine Haltung, eine Form des Seins, die radikalen Einfluss auf die Qualität der Handlungen, den Erfolg und die Performance des Unternehmens hat.

 

  • Integrität ist die Basis für intakte Beziehungen, für Vertrauen und für die Fähigkeit andere zu begeistern, zu ermächtigen und nachhaltig zu bewegen.
  • Integrität schafft die Möglichkeit für eine Kultur von „passion & purpose“. Und ermöglicht fokussiertes, effektives und zugleich „anstrengungsloses“ Handeln.
  • Integrität ist der Boden und die Arbeitsgrundlage für alle die Zukunft transformierenden Projekte wie z.B. Conscious Capitalism, Kapitalismus 3.0, U-Process, Conscious Business …

 

Integrität ist ein Performance Faktor

Wenn sie mir nicht glauben, denken Sie einfach mal an Projekte die gründlich schief gegangen sind und versuchen sie den Bruch in der Integrität zu finden. In den meisten Fällen sollte das gelingen.

Integrität bewegt.

Kraftvoll und immer in Würde.

Und transformiert.

 

Der erste Schritt?

Diejenigen Situationen bereinigen in denen es an Integrität gefehlt hat oder fehlt.

Das ist nicht immer ganz leicht, lohnt aber die Mühe. Und machen Sie sich bitte keine Hoffnungen: Sie können nicht perfekt sein. Aber Sie können es einfach tun.

Das ist die Basis jeder erfolgreichen Transformation. Es wird den Kurs verändern und damit den Ort, den Sie in Zukunft ansteuern. Egal ob persönlich oder im Unternehmen.

 

Danke an Zaffron / Logan für den Impuls zu diesem Beitrag.